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F72r

Abhandlung über den Wurm aus: "Aberdeen Bestiarium" (12.Jhdt.)

Der Wurmsegen[]

Die Beschwörung gegen den Wurm

Die Texte gegen den Wurm gehören zu der größten Gruppe der alt- und mittelhochdeutschen Beschwörungen. Der Glaube an wurmartige Dämonen ("wumme in dem libe") zeigt sich daran, dass Schmerzen in den Augen als Augenwürmer interpretiert werden, oder Schmerzen in den Fingern als Fingerwürmer. Laut Schulz (2003) ist die Vorstellung von wurmartigen Dämonen, welche sich in die menschlichen Organe einnisten, sehr alt. Schon assyrisch-babylonische Keilschrifttexte um das 9.Jahrhundert v. Chr. belegen Beschwörungen des Zahnwurms.

Beschwörungen gegen den Wurm gelten sowohl für den Menschen, als auch für Tiere (wobei es dem althochdeutschen Text "contra uerem edentem" zufolge nichts mehr bringt, eine Beschwörung bei einem Menschen anzuwenden, die vorher an einem Zugtier angewendet wurde). Im folgenden Abschnitt wird der Verlauf einer Beschwörung am Beispiel eines Tieres aufgezeigt.

Der Verlauf[]

Den Handlungsanweisungen zufolge wird die aufgeschriebene Beschwörung an den Hals des kranken Tieres gehängt, und zwar an die Stelle des Schmerzes ("bind das úber den wurm so stirb er"). Der Wurm (oder Dämon) wird aufgefordert, die verschrifteten Beschwörungen "aufzuessen". Zeitgleich fesselt das Schriftstück den Schädling an sich, und mit einer Verbrennung dessen wird der Wurm vernichtet.

Eine entsprechende Beschwörungsformel dazu lautet: Den der wurm esse der sol daz brieflin en crucz weis dri tag und dri nacht dar uber binden und brenn es denn alibua zerebantur tronus tronus son sonus on on so stirbet er.

Beispiel eines Segenspruchs[]

Der Trierer Wurmsegen

Der Trierer Wurmsegen stammt aus dem 10./11. Jahrhundert und stellt einen Segenspruch gegen die Genickbeule dar (die "Genickbeule" wurde allerdings fälschlich dem Wurm zugeschrieben, die war höchst wahrscheinlich ein Kropf wegen Jodmangels !). Der Krankheitsverursacher war vermeintlich der Wurm ("talpa" = lat. Maulwurf). Die Übersetzung des lateinischen Spruchs lautet wie folgt:

"Zur Entfernung eines Wurmes, den man Maulwurf (talpa) nennt. Wenn ein Mensch, ein Pferd, oder ein anderes Vieh jenen Wurm in sich trägt, den man Maulwurf (talpa) nennt, so nimm ihn/es und wende ihn/es nach Osten. Dann stelle bei aufgehendem Mond deinen rechten Fuß auf seinen rechten Fuß und sprich ihm den unten aufgeführten Spruch mit einem Vaterunser ins Ohr. Und nach einmaligem Besprechen umschreite ihn von der rechten Seite her und sprich noch einmal, so wie du es zuvor getan hast. Doch sprich nur beim dritten Mal im Vaterunser den Satz "Sondern befreie uns vor dem Bösen". Dies ist der Spruch: " Piupi und Uripi, es ist zwecklos, dass ihr euch heranschleicht. Der heilige Hiob wurde von den Würmern nur vorübergehend befallen. Daher möge auch jener Mensch und jenes Pferd, es sei schwarz oder weiß, die Würmer nicht behalten. So will es der Herr, die heilige Maria und der gute Hiob."

Der Hiob-Segen

Die Gestalt Hiobs wird hier deshalb angeführt, weil er laut exegetischer Überlieferung selbst mit Geschwüren gezeichnet war. Ziel des Segenspruchs ist die Wiederherstellung Hiobs und damit die Wiederherstellung der Gesundheit des befallenen kranken Wesens. Auf Hiob bezieht sich eine große Zahl an Wurmsegen, welche in erster Linie Pferde-Segen sind.

Jôb lac in miste, er rief ûf ze Criste, mit eiter bewollen: die maden im ûz wielen (unde sîn gebeine âzen die wurme cleine). der gnâdige Crist, der der inemo himile ist der erhôrte Jôbes bete, die er mit anedâht ze imo tete. (...) wurm, du sîst wîz, swarz oder rôt, ich gebiute dir, dû sîst nû tôt.

Zum Hiob-Segen, Wurmsegen Nr.137, Handschrift aus der Universitätsbibliothek Graz siehe hier.


In deutschsprachigen Texten wird der Tod des Schädlings durch einen letzten Satz "der wrm ist tôt/ tôt ist der wrm" proklamiert. Das äußere Erscheinungsbild der "Dämonen" stellte man sich in tierischer Gestalt vor. Hauptsächlich wurden die Wurmdämonen für innere und äußere Erkrankungen verantwortlich gemacht. Zu den Würmern zählten im Mittelalter auch Spinnen, Schlangen, Frösche, Kaulquappen, Larven, Insekten und Maulwürfe.

Das Verhältnis von Kirche und Segensspruch[]

Die Stellung der Kirche zu abergläubischen Bräuchen

Bei den Sprüchen und Segensformeln im Mittelalter wurde an vorchristliches Brauchtum angeknüpft. Die Kirche griff diese vorchristlichen Vorstellungen auf und lenkte sie in eine christliche Richtung, geprägt von Glaubensgeboten.

In den Bußbüchern der Kirche, stammend aus dem 6. und 7 Jhdt. (verfasst in Irland), finden sich Bestimmungen über die Reste des heidnischen Aberglaubens. Verboten waren die Verehrung von Sonne, Mond und Bäumen, sowie Wahrsagerei, Herstellung von Liebes-und Abtreibungsgetränken, Wettermachen und Prophezeiungen. Dennoch ist die Kirche mitverantwortlich dafür, dass der Priester durch seine besondere Stellung (Vollmacht, Segen und Sakramente zu sprechen; Wandlungskraft über Brot und Wein) in die Nähe des Magiers rückte. Neben den oben genannten Verboten gab es nämlich auch offizielle kirchliche Benediktionen, zum Beispiel für Fieber, Augenleiden, Epilepsie, Gicht uvm. Diese Benediktionen unterschieden sich von den abergläubischen Segen vor allem in Einem: der Sprache. Sie reichen von Besegnungen des Hauses, der Felder und des Viehs bis hin zu Wetterbeschwörungen und Dämonenaustreibungen. Das einfache Volk wandte sich in seinen Nöten an die Geistlichen (die Gebildeten) um Rat - vertraute auf die Wirksamkeit von Segensprüchen und zahlte dafür.

Bis ins 13.Jhdt. erfolgte die schriftliche Überlieferung von Texten, hier speziell von Formeln, durch Geistliche und Leute geistlicher Bildung. Daraus ergibt sich, dass geistliche Kreise Segensprüche selbst aufgeschrieben und verbreitet haben. In den Handschriften finden sich so laut Holzmann (2001) neben Gebeten und Missionsmaterial eben auch Segens- und Zauberformeln.

Contra vermes (Wurmsegen um 900)

Gang út, nesso, mid nigun nessiklínon, út fana themo marge an that bên, fan themo bêne an that flêsg, út fan themo flêsgke an thia húd, út fan thera húd an thesa strála. Drohtin, uuerthe só!

Übersetzung:

Gegen Würmer

Geh heraus, Wurm, mit neun Würmlein, heraus aus dem Mark in den Knochen, aus den Knochen in das Fleisch, heraus aus dem Fleisch in die Haut, heraus aus der Haut in diesen Strahl. Herr, es geschehe so!

Dämonenglaube[]

Der Glaube an Dämonen wurzelt in den Vorstellungen der Zeit, in der man in jedem Ereignis des Lebens die Tätigkeit von Geistern und Lebewesen sah (= Animismus). Die Menschen fühlten sich nach Holzmann (2001) von unerklärlichen Kräften abhängig. Zu diesen unerklärlichen Kräften zählen grundsätzlich die Wetterdämonen als Verursacher der elementaren Naturgewalten, sowie die Krankheitsdämonen. Die Krankheiten wurden weniger durch auf physische Ursachen zurückgeführt, sondern auf Eingriffe von Dämonen. Diese wurden mit Zauber- und Segenssprüchen bekämpft.

Das Phänomen, dass die Menschen Naturerscheinungen und Krankheiten im Mittelalter als "überirdisch" wahrnahmen, rührt von der damaligen starken Abhängigkeit von der Natur sowie von der geringen gesellschaftlichen Entwicklung. Durch Kulthandlungen wie dem Wurmsegen sollten Geister und Götter beschwichtigt werden.


Übung zum ahd. Konsonantismus/Vokalismus anhand eines zweifach überlieferten Wurmsegens[]

Überlieferung und Zuordnung zu Schreiblandschaften

Unter den zahlreichen ahd. Wurmsegen findet sich eine Version, die zweifach überliefert und sprachlich unterschiedlich geprägt ist.

Eine der Überlieferungen, im Folgenden (A) genannt, findet sich in einer Handschrift (München, CLM 18524b, 203v.), die im 9. Jh. in Salzburg produziert wurde. Der Schreibort des nachträglich eingefügten Wurmsegens ist jedoch unklar. Sprachlandschaftliche Einordnungen in der Literatur sind entweder different oder werden umgangen (ahd. (Verfasserlexikon), bair. (Brunner), obd. (Müller), o. A. (Handschriftencensus)). Die Eintragung des deutschen Spruches wird auf das 10. Jh. datiert.

Die zweite Überlieferung (B) (Wien, ÖNB 751, fol. 188v.) lässt sich sprachlandschaftlich dem Altsächsischen zuordnen und wurde vermutlich am Ende des 9. Jh.s/am Anfang des 10. Jh.s in die Handschrift eingetragen. Damit handelt es sich hierbei um einen der ältesten ahd. Zaubersprüche überhaupt.

Originaltexte

Im Folgenden werden die an Abbildungen der Handschriften überprüften Transkriptionen wiedergegeben (in einigen bekannten ahd. Lesebüchern haben sich teilweise Transkriptionsfehler eingeschlichen, die bei einer Auseinandersetzung auf der sprachlichen Ebene zu Irritationen führen können!).

(A)

Pro nessia

Gang uz, nesso, mit niun nessinchilinon,

uz fonna marge in deo adra, vonna den adrun in daz fleisk,

fonna demu fleiske in daz fel, fonna demo velle in diz tulli.

Ter pater noster.

ProNessia





Digitalisat


(B)

CONTRA VERMES

Gang ut, nesso, mid nigun nessiklinon,

ut fan themo marge an that ben, fan themo bene an that flesg,

ut fan themo flesge an thia hud, ut fan thera hud an thesa strala.

drohtin, uuerthe so.


Glossar


nessinchilîn

st. N., Würmchen

nesso

sw. M., Wurm

fel

st. N., Haut

tulli

st. N., Tülle ʻSpitze, rohrförmiger Teil eines Gegenstandesʼ, st. N. Hufstrahl

bein (ahd)./bên (as.)

st. N., Knochen, Gebein, Bein

strâla

st. F., Pfeil, Hufstrahl

drohtîn

st. M., Herr


Problematische Stellen bei der Übersetzung

Die problematischen Stellen sind in diz tulli (A)/an thesa strala (B). Zu diesen Stellen gibt es zwei unterschiedliche Interpretationen, wobei die erste älter und die zweite jünger ist. Interpretation 1: strâla und tulli bezeichnen eine Pfeilspitze. Der Wurm soll durch den Spruch im Körper von innen nach außen wandern, in einer Pfeilspitze gebannt und anschließend in den Wald geschossen werden. Der Wald galt auch in vielen anderen Sprüchen als ein Herkunftsort für Dämonen und Krankheiten. Interpretation 2: strâla und tulli bezeichnen den Hufstrahl am Pferdefuß, dorthin sollen die Würmer mit dem Spruch geleitet werden. Der wurmbefallene Strahl müsse danach bis aufs Fleisch abgetragen werden, um die Würmer zu entfernen. Diese Praxis wird in mhd. Roßarzneibüchern beschrieben.

Übungsaufgabe zur Einübung des ahd. Konsonantismus/Vokalismus

Prüfen Sie die beiden Texte im Hinblick auf die Durchführung der zweiten Lautverschiebung (Tenues- und Medienverschiebung, Spirantenschwächung), Sonorisierung und ahd. Monophthongierung. Welche Schlüsse lassen Ihre Beobachtungen auf die Zuordnung der Texte zu Sprachlandschaften zu?

Lösung

Lösung


Handschriften zum Thema Wurmsegen[]

München, CLM 18524b

Wien, ÖNB 751

Literaturverzeichnis[]

Bergmann, Rolf / Pauly, Peter / Moulin, Claudine (20077): Alt- und Mittelhochdeutsch. Göttingen.

Brunner, Horst (20072): Geschichte der deutschen Literatur im Überblick. Stuttgart.

DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Online aufrufbar unter http://www.dwb.uni-trier.de/

Eis, Gerhard (1964): Altdeutsche Zaubersprüche. Berlin.

Embach M. (2007): Trierer Literaturgeschichte. Das Mittelalter. Trier.

Epperlein, S. (2003): Bäuerliches Leben im Mittelalter. Weimar.

Etymolgie-Duden (20074)= Duden. Das Herkunftswörterbuch. Band 7. Mannheim u.a.

Haesli, Christa (2011): Magische Performativität. Ahd. Zaubersprüche in ihrem Überlieferungskontext. Würzburg.

Holzmann, Verena (2001): „Ich beswer dich wurm und wyrmin…“. Formen u. Typen ahd. Zaubersprüche u. Segen. Bern u. a.

König, Werner (200716): dtv-Atlas Deutsche Sprache. München.

Meineke, Eckard / Schwerdt, Judith (2001): Einführung in das Althochdeutsche. Paderborn u.a.

Mettke, Heinz (20008): Mittelhochdeutsche Grammatik. Tübingen.

Müller, Stephan (2007): Althochdeutsche Literatur. Stuttgart.

Pfeifer, Wolfgang et al. (1989f.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Berlin.

Schlosser, Horst Dieter (20042): Althochdeutsche Literatur. Berlin.

Schmidt, Wilhelm (200710): Geschichte der deutschen Sprache. Stuttgart.

Schulz, Monika (2003): Beschwörungen im Mittelalter. Heidelberg.

Schützeichel, Rudolf (20066): Althochdeutsches Wörterbuch. Tübingen.

Verfasserlexikon = Die deutsche Literatur des Mittelalters. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. hg. v. Kurt Ruh, 1978ff.

www.handschriftencensus.de

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