Der althochdeutsche "Tatian" bekam seinen Namen nach seinem syrischen Verfasser, der den ursprünglichen griechisch bzw. syrischen Diatessaron (um 170 n. Chr.) niederschrieb. Dieser war Tatianos, der zeitweilig auch in Rom lebte und dort auch Tatianus genannt wurde.
Aufbau[]
In seinem Werk wurden sowohl apokryphische Texte sowie die Berichte der Synoptiker gesammelt und in den chronologischen Rahmen des Johannesevangeliums integriert. Dieses Evangelium war weit verbreitet und wurde in der syrischen Liturgie bis ins 5. Jahrhundert angewandt.
Entstehung des althochdeutschen "Tatian"[]
Eine erste Übersetzung ins Lateinische erfolgte ca. Mitte des 6. Jahrhunderts durch Bischof Victor von Capua. Er überarbeitete diese nun leider nicht mehr erhaltene Handschrift und glich sie dem Wortlaut der populär gewordenen Bibelübersetzung des Hieronymus (Vulgata) an.
Wahrscheinlich wurde diese überarbeitete Version von Bonifatius zwischen 738 und 739 auf seiner Romreise in den Besitz des von ihm gegründeten Klosters Fulda gebracht. Dort im Biliotheksbestand wurde die Handschrift in Ehren gehalten, denn sie enthielt nicht nur die Evangelienharomonie, sondern auch alle Bücher des Neuen Testamentes und war für die Textarbeit elementar.
In Fulda fertigte man nun eine Kopie der lateinischen Handschrift an, die an einigen Stellen korrigiert wurde. Mit Hilfe mehrerer Übersetzer konnte man die Handschrift später ins Althochdeutsche übertragen. Im letzten Arbeitschritt fertigte man eine zweispaltige Latein-Althochdeutsch Bilingue an. Hierfür waren nicht weniger als sechs Schreiber notwendig. Zeile für Zeile der deutschen Spalte wurden identisch zur lateinischen Spalte eingetragen. Stellenweise zeigen sich im Tatian die Schwierigkeiten einer Übersetzung nach diesem Muster.
Entstehungsort[]
Der althochdeutsche "Tatian" entstand wohl im Kloster Fulda. Hrabanus Maurus war Abt des Klosters und die Schrift des Werkes ist die der „Hrabanischen Schule“ (um 830). Als ein weiterer Mitarbeiter gilt Hrabanus’ Schüler Walahfrid Strabo. Außerdem deuten diverse Lautstände, sowie der Schriftcharakter und die Herstellung der Bilingue weiter auf Fulda als Entstehungsort hin.
Gründe für die Entstehung[]
Die althochdeutsche Handschrift war weder ein routiniertes Werk, noch wurde sie für den Fuldaer Schulalltag genutzt. Es gibt des Weiteren keine Hinweise dafür, dass das übersetzte Werk noch länger am Entstehungsort blieb. Vielmehr Indizien sprechen dafür, dass die Handschrift im alemannischen Sprachraum in Gebrauch war.
Wahrscheinlicher scheint der "Tatian" eine Auftragsarbeit für das Kloster St. Gallen gewesen zu sein, dessen Abt Harmut (872-883) ebenfalls ein ehemaliger Schüler Hrabans war.
Entstehungszeit und Sprache[]
Die Entstehungszeit lässt sich durch den Sprach- und Schriftcharakter eher auf die zweite Hälfte des neunten Jahrhunderts schätzen. Eine weitere Eingrenzung des Zeitraumes zur Jahrhundertmitte hin lässt sich durch den Umfang des Werkes und Hinweise auf den ostfränkischen Lautstand machen.
Der große Wortschatz (ca. 2030 Wörter) ist jedoch für diese Zeit eher untypisch. Der "Tatian" weißt weiterhin eine Einbindung in nördliche wortgeografische Zusammenhänge auf, die sich weitestgehend von der süddeutschen Kirchensprache abhoben.
Besonderheiten[]
Die Übersetzungsleistung des "Tatians" ist keineswegs einheitlich und deshalb unterschiedlich zu beurteilen. Dies mag unter anderem daran liegen, dass die Fähigkeiten der mitwirkenden Übersetzer stark abwichen. Fraglich hierbei ist auch die Zielsetzung des jeweiligen Übersetzers. Außerdem ist die bereits erwähnte Zeile für Zeile Übersetzung ebenfalls eine Einschränkung der Qualität als solche, da der deutsche Text ja nicht nur sprachlich und sinngemäß übersetzt sondern viel mehr parallel zur lateinischen Spalte eigetragen werden sollte.
Doch der althochdeutsche "Tatian" darf keineswegs als schlecht übersetztes Werk gelten. Allein der erfolgreiche Abschluss eines solchen Projektes in Gemeinschaftsarbeit sucht zur althochdeutschen Zeit seines gleichen.[1]
[1] „Die deutsche Literatur des Mittelalters – Verfasserlexikon“, Slecht, Reinbold/Ulrich von Lichtenstein, Herausgeber: Wachinger Burghart, Gundorf Keil, Kurt Ruh, Werner Schröder, Franz Josef Worstbroch, Band 9, Walter de Gruyler (Verlag), S. 620-626