Die Semantik der schwachen Verben[]
Im Oberpunkt 2.Schwache Verben konnten wir anhand eines Vergleiches feststellen, dass es grundlegende Unterschiede zwischen starken und schwachen Verben gibt.
In diesem Kapitel soll genauer auf die Semantik der schwachen Verben, unter Berücksichtigung der verschiedenen Klassen, eingegangen werden. Hierzu ist ein kleiner Überblick über die Struktur des schwachen Verbs nötig:
Ein schwaches Verb besteht aus:
1. Einer Wurzel bzw. einem Grundmorphem
2. Einem Stamm-/Binde- oder Themavokal, der das Wortbildungsmorphem darstellt.
3. Aus der enstprechenden Flexionsendung.
Blickt man nun auf des Wortbildungsmorphem, so kristallisiert sich aufgrund der aus dem indogermanischen ererbten Morpheme (aus Substantiven, Adjektiven und starken Verben) eine gewissen Systematik der schwachen Verben heraus:
Die -jan-Verben übernahmen das indogermanische Morphem *-ie-/-io- bzw. -eie-/eio-, die -ôn-Verben das Suffix *-â- und die '-ên-Verben das Suffix *-êi-.
Da wir nun wissen, dass den unterschiedlichen Klassen der schwachen Verben des Mittelhochdeutschen jeweils unterschiedliche Suffixe zugrunde liegen, so stellt sich unweigerlich eine Frage:
Inwieweit sind die Basen der schwachen Verben in ihrer Bedeutung enthalten?
Ableitungssemantik[]
Eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischem dem Ablautprodukt und der zugrundeliegenden Basis (also dem Substantiv/Adjektiv/st. Verb) soll ein Überblick geben.
Die -jan-Verben[]
Prinzipiell können die jan-Verben st. Verben, Adjektive, Substantive, Adverbien, Syntagmen und Interjektionen als Basis haben, wobei die starken Verben und Adjektive überwiegen. Werden sie von starken Verben abgeleitet, so ist die Basis meist die Präteritumsform im Singular.
Die jan-Verben mit st.Verben als Basis:
Die Kausativa oder Faktitiva: Das schwache Verb drückt aus, dass die Actio der Basis bewirkt wird.
Bsp.: sw. Verb trenken „tränken, trinken machen“ – st.Verb trinkan (*drank-jan) „trinken“
Die Intensiva oder Iterativa: Das schwache Verb drückt eine besonders oft wiederholte oder besonders intensive Actio aus.
Bsp.: sw. Verb tretten „oft betreten, zertreten, zermalmen“ – st. Verb tretan „treten, betreten“
Die jan-Verben mit Adjektiven als Basis:
Die Kausativa oder Faktitiva: In diesem Fall drückt das Verb ebenfalls die Durchführung des Adjektivs aus.
Bsp.: sw. Verb heilen „heil machen“ – Adjektiv heil „gesund“
Die Essiva (lat. esse): Diese sind Verben, die beschreiben, dass die in der adjektivischen Basis benannte Eigenschaft aufgewiesen wird.
Bsp.: sw. Verb zerten „empfindsam sein, zart behandeln, liebkosen“, nicht „zart machen“ – Adjektiv zart „zart“
Die jan-Verben mit Substantiven als Basis:
Die Facientiva: Diese Gruppe der jan-Verben zeichnet sich vor allem dadurch aus, das durch das Basissubstantiv Bedeutete zugleich Inhalt der Verbalhandlung ist.
Bsp.: sw. Verb wunscen „wünschen, ersehnen, verlangen“ – Substantiv wunsc „Wunsch“
Die Ornativa: Diese Art der –jan-Verben weisen darauf hin, dass etwas mit dem im Basissubstantiv genannten versehen wird.
Bsp.: sw. Verb zûnen „verzäunen, umzäunen“ – Substantiv zun „Zaun, Verschanzung“
Die Occupativa: Bei dieser Gruppierung der schwachen Verben wird eine Berühung des durch die Basis Genannten impliziert. Wobei sonst kein Zusammenhang besteht.
Bsp.: sw. Verb nisten „nisten, wohnen“ – Substantiv nest „Nest“
Die Emotiva: Drücken aus, dass das im Basissubstantiv Genannte für bzw. gegenüber etwas/jemandem empfunden wird.
Bsp.: sw. Verb dursten „dursten, Durst haben (nach) – Substantiv durst „Durst, Dürre“
Die Fientiva: Mittels dieser Verben kann der Vollzug des durch das Basissubstantiv Genannten bezeichnet werden.
Bsp.: sw. Verb bluoten „bluten“ – Substantiv bluot „Blut“
Agentiva und Privativa:
Agentiva sind schwache Verben, die ausdrücken, dass jemand wie ein Bezeichneter handelt.
- Bsp.: sw. Verb zohen „treiben, führen“ – Substantiv herizoho „Heerführer, Herzog“
Privativa sind schwache Verben, die das Verb darstellen, durch das das vom Substantiv Genannte erzeugt wird.
Bsp.: sw. Verb kurnen „dreschen, entkernen“ – Substantiv korn „Korn, Same“
Die Agentiva und Privativa sind allerdings äußerst selten und kaum von Bedeutung.
Die -ôn-Verben[]
Die –ôn- Verben sind hauptsächlich von Substantiven abgeleitet.
- Die Agentiva: Sie bezeichnet das Handeln wie das Genannte des Basissubstantivs.
- Bsp.: sw. Verb smidôn „schmieden“ – Substantiv smid „Schmied“
Die Fientiva: Diese Verben sagen aus, dass sich das durch das Basissubstantiv Genannte vollzieht. Meist stehen sie im Zusammenhang mit Naturvorgängen.
Bsp.: sw. Verb donarôn „donnern“ – Substantiv donar „Donner“
Die Efficientiva: Das im Basissubstantiv Genannte fungiert als effiziertes Objekt der durch das Verb ausgedrückten Handlung.
Bsp.: sw. Verb scadôn „schaden, Schaden anrichten, zufügen“ – Substantiv scado „Schaden“
Die Facientiva: Bezeichnen ebenfalls die Durchführung des im Basissubstantiv Genannten, wobei das Basissubstantiv allerdings ein grammatisches Abstraktum oder eine verbale Handlung darstellt.
Bsp.: sw. Verb spilôn „spielen“ – Substantiv spil „Spiel“
[Im Vergleich zu scadôn, bei dem der entstehende Schaden durch vielfältige Handlungen entstehen kann, ist bei spilôn der Inhalt der Basis mit der Verbalhandlung identisch.]
Die Afficientiva: Das im Basissubstantiv Genannte fungiert als affiziertes Objekt der durch das Verb ausgedrückten Handlung.
Bsp.: sw. Verb fiskôn „fischen, Fische fangen“ –Substantiv fiska „Fisch“
Die Emotiva: Sie bezeichnen die Empfindung des im Basissubstantiv Genannten.
Bsp.: sw. Verb minnôn „lieben, verehren“ – Substantiv minna „Liebe“
Die Ornativa: Etwas oder jemand wird mit dem im Basissubbstantiv Genannten versehen.
Bsp.: sw. Verb lônôn „belohnen“ – Substantiv lôn „Lohn“
Die Instrumentativa: Sie drücken aus, dass das im Basissubstantiv Genannte als Instrument oder Werkzeug eingesetzt wird.
Bsp.: sw. Verb rîtrôn „sieben“ – Substantiv rîtera „Sieb“
Die -ên-Verben[]
Die –ên-Verben können ähnlich wie die –jan-Verben von Adjektiven, Substantiven und Verben abgeleitet werden.
- Die –ên-Verben mit Adjektiven/Substantiven als Basis:
Die Inchoativa: Das erzeugte schwache Verb bezeichnet einen Prozeß, der zu dem Zustand führt, der durch die jeweilige Basis bezeichnet wurde. In diesem Fall sind die Verben mit „werden“ zu umschreiben.
Bsp.: sw. Verb altên „alt werden“ – Adjektiv alt „alt“
sw. Verb tagên „Tag werden“ – Substantiv tac „Tag“
Die –ên-Verben mit Verben als Basis:
Die Durativa: Die schwachen –ên-Verben, deren Basis ein st. Verb darstellt haben meist ein durative Bedeutung.
Bsp.: sw. Verb werên „währen, dauern, halten, bestehen, bleiben“ – st. Verb. Wesan „sein, werden“
Im nächsten Kapitel wird nun die Flexion der schwachen Verben erläutert.
Literatur[]
Bergmann, Rolf/Pauly, Peter/Moulin, Claudine (2007): Alt- und Mittelhochdeutsch. Arbeitsbuch zur Grammatik der älteren deutschen Sprachstufen und zur deutschen Sprachgeschichte. 7. überarbeitete Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen.
Gerdes, Udo/Spellerberg, Gerhard (1991): Althochdeutsch - mittelhochdeutsch: grammatischer Grundkurs zur Einführung und Textlektüre. 7. Aufl., unveränderter Nachdruch der 6., durchgesehenen und ergänzten Auflage. Hain: Frankfurt am Main.
Meineke, Eckhard/Schwerdt, Judith (2001): Einführung in des Althochdeutsche. Schöningh: Paderborn, München [u.a.].
Schützeichel, Rudolf (2006): Althochdeutsches Wörterbuch. 6. überarbeitete und um die Glosse erweiterte Auflage. Niemeyer: Tübingen.
von Kienle, Richard (1969): Historische Laut- und Formenlehre des Deutschen. 2. durchgesehene Auflage. Max Niemeyer Verlag: Tübingen.